Das Spiel mit Hörgewohnheiten und Unterbewusstsein

Musikalische Hobbythek: Ich bastele mir einen Ohrwurm

| Foto: Shutterstock von Millla

Vermutlich sind niemals zuvor so viele Songs geschrieben und in Heimstudios produziert worden wie in den Monaten der Corona-Pandemie. Auftritte vor Publikum kaum bis gar nicht möglich. Die Kontaktbeschränkungen lassen es nicht zu. Also bleiben wir schön zu Hause und ziehen uns ins Heimstudio zurück. Wenn wir keine Chance haben, uns live in der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, müssen wir uns eben mit Studioproduktionen einen Namen schaffen. Und wie schafft man das? Man braucht einen Hit! Wir basteln uns einen Ohrwurm:

Check it: Was es für einen Ohrwurm braucht

  • Kann es ein Hit-Rezept geben?
  • Mit den Ohren der Hörer hören
  • Minimalismus und Unvollendung
  • Spannung erzeugen und aufrechterhalten
  • Mantra-Faktor ausnutzen

Ohrwurm als Hit-Rezept? Wenn das so einfach wäre

Schon hören wir dich vor Lachen brüllen, als ob das so einfach wäre. Wenn es dafür ein Rezept gäbe, wäre damit ein Geheimnis entschlüsselt, das dir derart unlösbar scheint, wie die Suche nach dem heiligen Gral. Stimmt schon, die wahrhaftige Mixtur für den Hit ist wie ein zufallsgenerierender Algorithmus, dessen Wirkung nicht vorhersagbar ist. Aber vielleicht haben wir eine Chance dem Mysterium ein wenig näher zu kommen, wenn wir musikalische Pferd einmal andersherum aufzäumen.

Klar gibt es kein Rezept, aber warum nicht mal versuchen? | Foto: Shutterstock von Vectorium

Der Ohrwurm als kleinster gemeinsamer Nenner für deinen Track

Der kleinste gemeinsame Nenner für deinen Song scheint doch dieser zu sein: Du brauchst einen Ohrwurm. Also nicht du selbst; vielmehr brauchst du einen Song, der sich als Ohrwurm felsenfest am Hirn deiner Hörer festklammert. Eine Melodie oder eine Textzeile, die uns selbst im Schlaf nicht in Ruhe lässt, vielmehr dafür sorgt, dass wir mit dem Ohrwurm in der Birne nicht mehr einschlafen können. Das ist schlimmer als Schafe zu zählen. Und wenn wir doch allesamt immer mal wieder eine solche Melodie im Gepäck haben, sollte sich das doch ausnutzen lassen. Versuchen wir’s zu entschlüsseln:

Perspektive wechseln und mit fremden Ohren hören

Zuweilen bist du entgeistert bis schockiert, welche Songs es auf die Spitzenplätze der Charts schaffen. Oftmals an Banalität kaum zu unterbieten. Und schon stehen wir fassungslos vor dem ersten Wesenszug eines Ohrwurms: Meistens sind es die sehr einfachen Melodien, die sich in ungefragt in unser Hirn brennen. Die können gar nicht einfach genug sein. Bekanntlich werden Forschende nicht müde, auch die letzte selbstverständliche Banalität wissenschaftlich zu belegen. Und so haben Musikwissenschaftler in Amsterdam auch diesen musikalischen Minimalismus penibel untersucht und dazu ihre fundierte These verbreitet.

Minimalismus als Visitenkarte der menschlichen Hörgewohnheiten

Mag sein, dass dein musikalischer Anspruch gerade bretthart auf den oftmals minimalistischen Geschmack der handelsüblichen Normalhörer knallt. Immerhin hast du gelernt, komplexe Kadenzen, Melodien, Tonartwechsel und Grooves zu konstruieren. Längst hast du deine eigenen Hörgewohnheiten. Wenn wir nun unserem Ziel folgen wollen, einen Ohrwurm zu produzieren, wirst du gerade bei den komplizierten Strukturen Abstriche machen müssen.

Der Grund: Musiker hören anders als Nicht-Musiker. Alterierte Akkorde beispielsweise oder Dissonanzen, die auf dich einen besonderen Reiz haben, wirken für Nicht-Musiker einfach nur schräg. Und einen Ohrwurm schreibst du üblicherweise nicht für Musiker. Also heißt es für dich, die Hörgewohnheiten und Hörmöglichkeiten deiner Zielgruppe ausloten und anvisieren; ernüchternd allemal.

Dissonanzen klingen für Nicht-Musiker einfach schräg | Foto: Shutterstock von Maria Shalamova

Zeigarnik-Effekt: Das Spiel mit dem unvollendet Unterbewussten

Ein musikalisch dann wiederum intellektuellerer und für dein Selbstverständnis anspruchsvollerer Trick kommt aus einer tiefenpsychologischen Ecke. Die Rede ist sogenannten Zeigarnik-Effekt. Die russische Psychologin Bljuma Wulfowna Zeigarnik hat die Theorie begründet, dass wir Menschen uns an nicht vollendete Aufgaben und Gedanken, solche, die eben noch nicht erledigt oder zu Ende gedacht sind, weitaus deutlicher erinnern als an bereits rundum abgeschlossene.

Es gibt Hoffnung gegen musikalische Unterforderung

Eine These, die von weiteren Psychologen ebenso häufig widerlegt wie bestätigt wurde. Wenn du bewusst und gewollt einen Ohrwurm produzieren willst, ergibt sich aus dem Zeigarnik-Effekt der ideale Ansatz, auch frei von musikalischer Unterforderung. Denn hier kannst du mit deinen Fähigkeiten aus dem Vollen schöpfen. Grundsätzlich geht es darum, Fragmente im Song nicht zu vollenden. Der Kopf der Zuhörer wird solche Passagen als Reiz empfinden und denken „Hey, hier fehlt was.“ Genau an dieser Stelle kann die nicht enden wollende Dauerschleife entstehen. Ganz schön perfide, oder? Das heißt nichts Geringeres, als dass du den Zuhörern Freiraum und Interpretationsspielraum lässt. Wie das funktionieren kann? Nun, dafür gibt es diverse Möglichkeiten.

Freiraum lassen, das Erwartbare vermeiden

Zunächst bedeutete das, eben nicht jede freie Stelle im Song dichtzukleistern. Es ist schlichtweg nicht nötig, sämtliche Zählzeiten im Takt mit einem Haufen von Tönen vollzustopfen. Der vielzitierte Spruch, auch Pausen sind Musik, bekommt hier seine eigentliche Bedeutung. Die Kunst dabei ist, es allerdings keinesfalls, einfach nur weniger Töne zu spielen. Vielmehr müssen die Pausen an den richtigen Stellen gesetzt sein. Genau dort, wo der Normalhörer mit hoher Selbstverständlichkeit erwarten würde, dass genau hier exakt diese Note kommt, kommt sie eben nicht. Soll er sich doch unterbewusst seine eigene konstruieren.

Spannung beibehalten und nicht simpel auflösen

Tatsächlich geht es in der Musik immer darum, Spannung zu erzeugen, um die anschließend wieder aufzulösen – oder bewusst und gewollt eben nicht wieder aufzulösen. Das Fundament für Spannung ist Harmonie, für dich als musikalischer Produzent auf dem Weg zum Ohrwurm sind das also harmonische Akkorde, aus denen du schrittweise ausbrichst. Du strickst die ein paar Kadenzen, die wiederkehrenden Akkordfolgen.

In den meisten Fällen wird das bedeuten, dass du auf dem Grundakkord beginnst, über weitere Stufenakkorde kletterst und abschließend wieder zum Grundakkord zurückkehrst. Resultat ist, dass, du die erzeugte Spannung wieder auflöst. Die Akkordfolge wäre damit vollendet. Und genau das wollen wir nicht, jedenfalls nicht immer.

Spannung unbedingt aufrechterhalten | Foto: Shutterstock von Natalia Sheinkin

Kadenzen nicht auf dem Grundakkord beenden

Einen prägnanten Reiz kannst du bereits dadurch schaffen, dass du die Harmoniefolge am Ende nicht auf dem Grundakkord auflöst. Ohnehin eine gefühlt monotone Unsitte unserer westlich geprägten Musik. Ehrlich gesagt kenne ich kein Volkslied, dass am Ende nicht wieder zum Grundakkord zurückkehrt. „Hoch auf dem gelben Wagen, …“ Deine Absicht aber ist es, unterschiedlichste Passagen offenzulassen.

Stellen wir uns also beispielsweise vor, deine rudimentäre Akkordfolge im Chorus lautet C | Em | F | G | C |. Das wäre rund und in sich abgeschlossen, gewissermaßen reizlos. Versuchen wir eine andere, eine unvollendete Variante: C | Em | F | G | Gm |. Danach nix, Ende aus, finito, ich habe fertig. Wunder über Wunder; du merkst schlichtweg jeder würde erwarten, dass diese Spannung zum Schluss aufgelöst wird. Wird sie nicht. Der Brummkreisel im Hirn der Zuhörer beginnt zu rotieren. Der Ohrwurm nimmt seinen Lauf.

Erwartbare Beats nicht mit langweiligen Schlägen bedienen

Nach dem gleichen Strickmuster kannst du selbstverständlich den Groove konfektionieren. Kontinuierlich die Eins und die Drei im Takt zu betonen kann man machen, muss man aber nicht. Nicht zu vergessen, dass es zahlreiche vorbildliche Tracks gibt, in denen gerade durch die außergewöhnlichen Betonungen der moderne Sound erreicht wird. Immer wieder zu beobachten im Soul, im Reggae und diversen weiteren Genres.

Auch hier wollen wir den unvollendeten Überraschungseffekt nutzen: Als Analogie zur Melodie- und Harmonieführung gibt es auch beim Groove immer wieder Zählzeiten, bei denen Hörer den Schlag auf die Bass-Drum, die Snare oder was auch immer förmlich voraussetzen und erwarten. Verzichte darauf; das Überraschungsmoment ist dein bester Freund auf dem Weg zum Ohrwurm.

Mantra-Faktor einkalkulieren, es kann gar nicht stumpf genug sein

Spätestens jetzt sind wir bei den Textzeilen und melodischen Phrasen angelangt. Wenn du beabsichtigst, dass eine Passage im Kopf immer wieder neu startet, ist die dafür beste, allerdings auch knifflige Möglichkeit, die Hook-Line, die Zeile oder Worte nicht in ihrer Tonfolge nicht enden zu lassen.  Plakatives Beispiel gefällig: „Mana Mahna“. Kein Mensch käme auf den Gedanken, dieses ausdrucksstark wortgewaltige Konstrukt der Muppets wäre abgeschlossen. Das Karussell mit deinem Ohrwurm dreht sich unaufhaltsam.

Unbedingt wichtig: Simpel bleiben und die Aussage, falls es überhaupt eine gibt, auf den Punkt bringen. „Tausendmal berührt“ ist ganz sicher einprägsamer als „Wir haben uns schon in der Schule gekannt, dann immer mal wieder mehr freundschaftlich berührt, bis es irgendwann nicht mehr bei einer Berührung blieb.“ Ebenfalls nicht unbedeutend ist, dass du immer leicht neben dem Mainstream schwimmst. Das hundertfach Durchgekaute wird keinen Hering mehr vom Teller ziehen. Sich zu weit zu entfernen, widerspricht wiederum den Hörgewohnheiten.

Also dann, viel Spaß mit deinem Ohrwurm. Vielleicht konnten wir dir ein paar Inspirationen für deine nächste Home-Recording-Session mit auf den Weg geben.

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Auch interessante für deine Heimstudio-Sessions: „Lo-Fi Musik – knistert euch hörenswert“.

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