
Seit zehn Jahren ist Sebastian Küchler-Blessing Domorganist in Essen. Die Liebe zu seinem Instrument, beharrliches Üben, Flexibilität und Offenheit haben dem Musiker seit seiner Jugend zu Erfolgen verholfen.
Check it: Domorganist Sebastian Küchler-Blessing
- Schon als Kleinkind wollte er Orgel spielen
- Klavierunterricht ist Voraussetzung für das Orgelspiel
- Jede Orgel ist einzigartig, es gibt keine zwei gleiche
- Orgelmusik muss man unterschiedlichen Räume anpassen
- Es gibt nicht mehr genügend Kirchenmusiker
Die Faszination für die Orgel entdeckte er schon früh. „Mit zweieinhalb Jahren wusste ich, dass ich unbedingt dieses Instrument spielen wollte. Kleine Kinder wünschen sich oft, Lokführer oder Pilot zu werden. Bei mir lief es aber anders“, sagt Sebastian Küchler-Blessing, seit 2014 Domorganist in der Ruhrgebietsstadt Essen. Mit 26 Jahren war er der jüngste Kirchenmusiker, der in Deutschland ein solches Amt übernahm.
Küchler-Blessing wuchs in Baden-Württemberg auf und unternahm viel mit seinem Großvater, der im Rottweiler Münsterchor sang. „Während des Gottesdienstes durfte man auch als Kind nach oben auf die Orgelempore. Der Organist setzte mich auf einen Stuhl neben sich. Ich konnte genau beobachten, wie er spielte – mal hoch, mal tief, mal laut, mal leise“, erinnert er sich. „Irgendwann saß ich jeden Sonntag dort, für mich war dies der Höhepunkt der ganzen Woche.“ Der Junge beobachtete genau, wo der Organist auf dem Instrument Klangfarben abspeichern und später per Knopfdruck abrufen konnte.
Zu der Zeit sprach er noch nicht, erst mit über fünf Jahren begann er mit Worten zu kommunizieren. Bis dahin lebte er ganz in der Welt der Musik, die ihm alle Ausdrucksformen bot, nach denen er suchte. Zu Hause gab es ein Klavier, auf dem er sich beim Spielen vorstellte, er säße an der Orgel. „In meiner Fantasie habe ich am Klavier auf der Seite, wo sich die Registerzüge der Orgel im Rottweiler Münster befinden, ebenfalls Register gezogen, die Töne abgespeichert und dann abgerufen. Das war eine Art analoges Imitieren. Und die Stücke, die ich im Sonntagsgottesdienst hörte, versuchte ich immer zu Hause nachzuspielen. Schon bevor ich Klavierunterricht bekam, konnte ich mir auf diese Weise nach und nach die Klaviatur erschließen.“

Als Küchler-Blessing dreieinhalb Jahre alt war, kam endlich der große Moment, dem er lange entgegengefiebert hatte. Endlich durfte er selbst ausprobieren, wie es ist, Orgel spielen. Aus der Zeit gebe es ein Foto, auf dem er strahlend am Spieltisch sitze, hinter ihm der damalige Münsterorganist, erzählt er. Schlussendlich war die Erfahrung zwar recht frustrierend, weil seine Hände noch zu klein waren und er die Spieltechniken nicht beherrschte. Wohin es für ihn gehen sollte, wusste er aber ganz genau. Der Klavierunterricht, den er damals erhielt, war eine notwendige Voraussetzung für das Orgelspiel, zumal ein Kind an der Orgel mit den Füßen noch nicht das Pedal erreicht.
Vom Klavier- und Orgelunterricht
Irgendwann erfuhr seine Lehrerin an der Musikschule von seiner Passion für die Orgel. Mit elf Jahren konnte sich Küchler-Blessing dann auf Empfehlung des Musikschulleiters dem Orgelprofessor Christoph Bossert an der Musikhochschule Trossingen vorstellen. „Auf einmal saß ich an einer Orgel im Konzertsaal, hörte mir Klänge an, beantwortete viele Fragen und sollte schließlich selbst etwas spielen. Ich hatte das Glück, dass mich dieser Professor als Schüler annahm, obwohl ich vom Musikmachen eigentlich noch gar nichts wusste.“ Bei diesem Lehrer blieb er dann bis zum Abitur. Am Gymnasium wurde er bald bei Schulkonzerten eingesetzt, an der Orgel oder am Klavier. Damals lernte er auch, Musik aus Filmen und Musicals, Rock und Pop zu spielen, was sein Repertoire erweiterte.
Im Alter von 15 Jahren folgte der nächste wichtige Schritt, der ihn einer professionellen Musikerlaufbahn näherbrachte. Die Pianistin Sontraud Speidel, die unter anderem von Yvonne Loriod und Géza Anda ausgebildet wurde, nahm Küchler-Blessing als Jungstudenten an. Von da an pendelte er regelmäßig 150 Kilometer zwischen Rottweil und Karlsruhe, wo die Professorin tätig war. „Sontraud Speidel ist eine grandiose Pädagogin, ihr verdanke ich meine grundlegende pianistische Ausbildung“, erinnert er sich dankbar. „Wenn man nicht über eine gute Klaviertechnik verfügt, wird man es an der Orgel nie weit bringen.“

Küchler-Blessing verschweigt nicht, dass angehenden Organisten oftmals erschwert wird, sich das praktische Rüstzeug anzueignen. Denn es sei nicht einfach, in Kirchen eine Möglichkeit zum Üben zu bekommen. Immerhin setzen die evangelische und die katholische Kirche mittlerweile stärker als früher auf eine Breitenausbildung. Als Alternative zum Vollstudium oder dem Aufbaustudium für hauptberuflich tätige Organisten gibt es inzwischen auch die nebenberufliche C-Ausbildung.
Zu Letzterem entscheide man sich zumeist mit 16 oder 17 Jahren, berichtet er. Von der Möglichkeit machten Musiker Gebrauch, die bereits Orgel spielten, am Instrument improvisierten und die Gemeinde bei Gottesdiensten begleiteten. Die C-Ausbildung umfasst auch Chorleitung und Gregorianik, weswegen sie nicht selten als Vorbereitung für ein späteres Kirchenmusikstudium dient. Küchler-Blessing, der vorher bereits auf Honorarbasis bei Gottesdiensten spielte, fuhr mehrgleisig. Er war Jungstudent für Orgel und Improvisation in Trossingen und machte zwei Jahre später auf Anraten seiner Lehrerin Speidel zusätzlich die Aufnahmeprüfung für das Jungstudium im Fach Klavier für Karlsruhe. Mit 16 Jahren beteiligte er sich als seit langer Zeit erster Organist am Wettbewerb „Jugend musiziert“, wo er den 1. Preis mit der Höchstpunktzahl erhielt, außerdem einen Sonderpreis und ein Stipendium. Dank der Förderung durch die Jürgen-Ponto-Stiftung und die Stiftung Musikleben hatte er früh Gelegenheit, großformatige Konzerte zu spielen. Der Direktor seines Gymnasiums gab ihm stets seine volle Unterstützung, so dass er für wichtige Auftritte, Wettbewerbe und Meisterkurse beurlaubt wurde.
Nach dem Abitur studierte Sebastian Küchler-Blessing Kirchenmusik an der Hochschule für Musik in Freiburg. Als Künstler arbeitete er später auch mit renommierten Dirigenten wie Claudio Abbado, Gustavo Dudamel und Hartmut Haenchen zusammen. Mit Klangkörpern wie dem Luzerner Sinfonieorchester oder der Nordwestdeutschen Philharmonie trat er solistisch in Erscheinung, außerdem spielte er Uraufführungen von Komponisten wie Zsigmond Szathmáry, Jüri Reinvere, Otfried Büsing und Kit Armstrong. Neben dem Bachpreis des Leipziger Bach-Wettbewerbs gewann er unter anderem auch den Mendelssohn-Preis und den 1. Preis der Internationalen Orgelwoche Nürnberg.
Unterschiedliche Orgeln in unterschiedlichen Räumen
Seine vielfältigen Erfahrungen haben Küchler-Blessing in seiner Überzeugung bestärkt, das für ihn ideale Instrument ausgewählt zu haben. „Die Orgel ist perfekt dazu geeignet, einen inneren Kompass zu finden. Wenn man in Kirchen übt, ist man in sehr großen Räumen unterwegs. Der Organist muss diese Räume vollständig mit Klang füllen – das macht etwas mit einem. In Kirchen zu spielen, die oft Jahrhunderte alt sind, ist eine unglaubliche persönliche Bereicherung.“

Eines dieser beglückenden Erlebnisse hatte er in der katholischen Pfarrkirche St. Maria in Schramberg im Schwarzwald. Dort befindet sich die größte noch erhaltene Kegelladen-Orgel, die zwischen 1840 und 1844 in der Werkstatt von Eberhard Friedrich Walcker gebaut wurde. Nach diesem Konstruktionsprinzip stehen alle Pfeifen, die zu einem Register gehören, auf einer gemeinsamen Windlade, aus der sie die nötige Luft beziehen. Bei der Schleiflade dagegen stehen alle Pfeifen auf einer Windlade, die zu einer Taste gehören. In einer anderen katholischen Kirche in Schramberg findet sich ein nicht weniger kostbares Instrument von 1925. In den letzten ein bis zwei Jahren vor seinem Abitur habe er dort viel Zeit verbracht und jeden Abend teils bis in die Nacht hinein geübt, sagt er.
„Das große Faszinosum ist, dass jede Orgel einzigartig ist. Es gibt keine zwei Instrumente, die gleich sind. Und selbst wenn man zwei baugleiche Orgeln hat, stehen sie an unterschiedlichen Orten. Man sagt immer, dass die wichtigste Klangfarbe einer Orgel der Raum ist.“ Küchler-Blessing erlebt sein Instrument daher immer wieder anders. Man müsse sich stets einen neuen Zugang zur Orgel erschließen und seine bisherigen Erfahrungen auf den Prüfstand stellen, weiß er. „Wie passe ich mein Spiel und meine Interpretationen dem jeweiligen Instrument an? Das ist eine Welt für sich, etwas Schöneres gibt es für mich nicht.“
Der Essener Dom, wo er seit mehr als zehn Jahren tätig ist, ist nicht weit entfernt vom Kölner Dom, der ebenfalls eine Kathedralkirche ist. Während in Essen die Nachhallzeit dreieinhalb Sekunden beträgt, liegt sie in Köln dagegen bei neun Sekunden. Ein Organist kann ein und dasselbe Werk hier nicht auf die gleiche Weise aufführen, er muss seine Spielweise anpassen. „Nehmen wir beispielsweise das Präludium und die Fuge C-Dur BWV 545 von Johann Sebastian Bach. Dieses Stück muss ich in Köln viel langsamer oder aufgelockerter spielen. Die 2004 geweihte Essener Domorgel wurde von der österreichischen Firma Rieger gebaut. Die Querhaus- und die Langhausorgel im Kölner Dom stammen von 1948 beziehungsweise von 1998. Wenn ich mit diesen unterschiedlichen Erfahrungen im Kopf etwa in die Wenzelskirche in Naumburg an der Saale gehe, finde ich dort eine Orgel vor, die 1746 von Bach und Gottfried Silbermann abgenommen wurde. Auf diesem Instrument hat Bach selbst gespielt. Auch wenn die Nachhallzeit von vier Sekunden ähnlich lang ist wie in Essen, muss ich mit dieser besonders feinfühligen historischen Orgel völlig anders umgehen.“

In der Kathedralkirche des Ruhrbistums führte Küchler-Blessing in diesem Jahr Bachs gesamtes Orgelwerk auf. Neben der traditionellen Kirchenmusik hat er in den vergangenen Jahren auch facettenreiche Programme entwickelt, die ganz neue Klänge in die Kirche bringen. So musizierte er beispielsweise mit Kammermusikpartnern wie dem Trompeter Reinhold Friedrich, der Flötistin Daniela Koch, der Saxofonistin Asya Fateyeva, der Geigerin Franziska Hölscher oder dem Cellisten Gabriel Schwabe. Auf dem Programm standen außerdem Abende mit der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Walfisch, dem Pantomimen JOMI oder mit vier Organisten an vier Orgeln. Dem Publikum wurden auch Orgelfassungen von Gustav Mahlers „Kindertotenliedern“, dem „Requiem“ von Johannes Brahms oder Bachs „Brandenburgischen Konzerten“ geboten.
Mit dem Pianisten Frank Dupree kam im Dom auch schon eine Bearbeitung von Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ zur Aufführung – ein denkbar heidnisches Werk. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Orgel – wie manche Kritiker fordern – heute vom „Muff“ der Kirche befreit werden müsse. Im Gegenteil – die Sakralmusik ist für Küchler-Blessing ein immenser Schatz. „Wenn Musik nicht nur zur Erbauung und Freude der Menschen, sondern zur Ehre Gottes entstanden ist, dem höheren Zweck des Gotteslobes wegen, dann trägt sie eine noch größere Dimension in sich.“
Kirchenmusik fehlt Nachwuchs
Seit zehn Jahren unterrichtet Küchler-Blessing Orgel und liturgisches Orgelspiel/Improvisation an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf. Die Zukunft der Kirchenmusik bereitet ihm auch Sorgen. Denn bereits jetzt gibt nicht mehr genügend professionelle Kirchenmusiker, um alle freiwerdenden Stellen in den Gemeinden besetzen zu können. Schaut man sich die aktuellen Statistiken der Hochschulen an, wird deutlich, dass sich an dieser Misere wenig zum Positiven verändern wird. „Ich sehe die Kirchenmusiker und Kirchengemeinden deshalb massiv in der Pflicht, auch offen für Laienmusiker zu sein“, fordert er. „Sie sollten von sich mehr Werbung für das Instrument machen und Interessenten ermöglichen, regelmäßig in Kirchen zu üben. Eine Orgel geht vom Spielen nicht kaputt. Im Gegenteil – es wird genau dann schwierig für ein Instrument, wenn es nicht mehr ausreichend gespielt wird.“