
Seit seiner Flucht 2021 ins portugiesische Exil ist das „Afghan Youth Orchestra“ zum ersten Mal wiedervereint in Deutschland aufgetreten. Alle 51 Mitglieder setzten mit ihren Beiträgen beim Festival „Young Euro Classic“ im Berliner Konzerthaus Ende August ein hoffnungsfrohes musikalisches Ausrufezeichen. Viele der Musikstücke, arrangiert vom portugiesischen Dirigenten Tiago Moreira da Silva, zeigten das klare Bekenntnis zu Menschlichkeit und Resilienz: von meditativen Sufi-Werken über große symphonische Arrangements bis hin zu traditionellen afghanischen Stücken. Und Orchestergründer Dr. Ahmad Sarmast bediente sich der Worte des chilenischen Lyrikers Pablo Neruda, als er sich an die Unterdrücker in Kabul wandte: „Ihr könnt die Blumen abschneiden, aber den Frühling könnt ihr nicht aufhalten.“
Check it: Das Afghan Youth Orchestra
Bevor die Generalprobe beginnt, ergibt sich die Chance, drei der frisch eingetroffenen Mitglieder des Orchesters in ihrer Berliner Hotellobby zu treffen. Gerade aus Portugal eingeflogen, wirkt besonders Zitarspielerin Shabana Gulistan noch stark vom Verlust ihrer Heimat gezeichnet. Ihre Haut ist blass und Verletzlichkeit liegt in ihren Augen. Fühlt sie sich wohl in ihrem portugiesischen Exil? Sie nickt still, meint aber dann: „Unsere Heimatkultur in doch ganz anders.“
Zum Glück sei sie gemeinsam mit ihrem Bruder geflohen, aber ihre restliche Familie lebe immer noch in Afghanistan. „In der ersten Zeit“, so die 18-Jährige, „war ich sehr verzweifelt, weil ich mein gesamtes bisheriges Leben und so viele Menschen in Kabul zurücklassen musste.“
Bei der Flucht vor vier Jahren war sie erst 14 Jahre alt und zuvor noch nie von ihrer Familie getrennt. „Mit zwölf Jahren habe ich begonnen, das Zitarspiel zu lernen.“ Obwohl die Zitar als bedeutendstes Saiteninstrument der klassischen nordindischen Musik bekannt ist, wird sie auch in Afghanistan weit verbreitet gespielt. Im Jahr 2019 nahm Ahmad Sarmast Shabana in sein „Afghan Youth Orchestra“, kurz AYO, auf. Später war sie zusätzlich Mitglied in dem reinen Frauen- und Mädchenorchester „Zohra“. Auf welche musikalischen Highlights des Berlin-Konzerts freut sie sich besonders? Vor allem auf den eingängige Paschto-Song „Pa Loyo Ghro“, sagt sie. Der Titel bedeutet übersetzt: „Auf den hohen Bergen.“ In dem Volkslied werden die hohen Gebirgsketten Afghanistans zum Symbol der Widerstandsfähigkeit des gesamten Volkes.
Sorge um Eltern in Kabul
Als auch Maisam Nabizada und Ramiz Safar an der traditionellen Schalenhalslaute Afghanistans, der Rubab, dazukommen, setzen sich alle drei im Schneidersitz auf den weichen Teppich mitten im stark frequentierten Empfangsraum des Hotels. Als sie von Vorbeigehenden erstaunt betrachtet werden, sagen sie: „So spielen wir unsere Musik traditionell in Afghanistan.“

Der 22-jährige Maisam lernte neben dem Harmonium auch die Trompete zu spielen und ist außerdem Sänger. Mitgebracht hat er aber heute nur das Harmonium, das ebenfalls ein original indisches Instrument ist. Er lernte es als Kind in Kabul zu spielen. Sein Vater war sein Lehrer. Um die Sicherheit seiner in der afghanischen Hauptstadt zurückgebliebenen Eltern ist er außerordentlich besorgt. „Aber meine Schwester und mein Bruder leben zum Glück hier in Deutschland. Alle zwei Monate kann ich sie hier besuchen – und ich liebe Berlin, es ist so frei,“ berichtet er mit lächelnden Augen.
Auch der 21-jährige Ramiz hat das Rubab-Spiel vom Vater gelernt. Im Alter von sechs Jahren war er bereits ein begeisterter Tabla-Spieler und machte auch als Perkussionist eine gute Figur. Drei seiner vier Geschwister seien ebenfalls musikalisch: „Ich bin von fünf Kindern das mittlere. Mein ältester Bruder spielt Harmonium und singt dazu, der zweite spielt Tabla und Rubab. Meine jüngere Schwester singt, aber die kleinste darf nichts mehr lernen, seitdem die Taliban zurück an der Macht sind. Als wir noch zusammen waren, haben wir trotzdem innerhalb des Hauses immer alle gesungen und gespielt. Allerdings nur sehr leise, es durfte ja niemand mitbekommen. Meinen Schwestern ist jetzt so langweilig, weil sie gar nicht auf Straße gehen dürfen“, klagt Ramiz.
273 gerettete Seelen
Ahmad Sarmast hat im Jahr 2010 nicht nur das Afghanische Nationalinstitut für Musik gegründet, zudem das AYO gehört. Im Gespräch vor dem Konzert berichtet er von Flucht, Vertreibung und jahrelanger Unterdrückung: „Im Sommer 2021, als die Taliban Kabul erreichten, versuchte ich sofort, alle Mitglieder des Afghanistan National Institute of Music, kurz ANIM genannt, darunter auch Mitglieder des Afghan Youth Orchestra, in Sicherheit zu bringen.“ Von Australien aus organisierte er gemeinsam mit einem Netzwerk aus Politikern, internationalen Musikern, Menschenrechtsorganisationen, Philanthropen und Anwälten die Evakuierung aller Mitglieder des Instituts, insgesamt 273 Menschen.

„Trotz zahlreicher beschwichtigender Spekulationen in den westlichen Medien, die Taliban des Jahres 2021 seien eine veränderte Gruppe, war mir als Zeuge der Taliban-Verbrechen klar, dass ihre Rückkehr an die Macht das Ende der Musik in Afghanistan und die völlige Zerstörung des ANIM samt des Jugendorchesters bedeuten würde.“ Er kontaktierte daher sofort mehrere Staatsoberhäupter, darunter auch deutsche.
Die Reaktionen aus Deutschland seien schnell erfolgt und sehr höflich gewesen, waren aber dennoch im Resultat negativ. Noch heute schwingt eine gewisse Enttäuschung in der Stimme mit, wenn er berichtet: „Angesichts der langjährigen Partnerschaft mit der deutschen Botschaft, dem Goethe-Institut, Musikern und Musikunternehmen hatte ich eigentlich mit einer positiven Reaktion gerechnet. Ich bin daher allen Menschen in Portugal und der portugiesischen Regierung im Besonderen unendlich dankbar, dass sie sofort großzügig angeboten haben, uns Gruppenasyl zu gewähren.“ Das bedeutete nichts weniger, als dass die gesamte Studentenschaft, einschließlich der Mitglieder des afghanischen Orchesters, der Lehrer, des Personals und ihrer Familien, sicher nach Portugal umsiedeln konnte. 273 gerettete Seelen.
2022 gaben sie in Portugal ihre ersten Konzerte als wiedervereintes Orchester und tourten später in mehreren europäischen Städten. Gruppen und Ensembles von ANIM sind seit 2022 auch mehrfach in Deutschland aufgetreten, darunter eine kleine Formation des Afghanischen Jugendorchesters, die beim Beethovenfest in Bonn gemeinsamen mit Mitgliedern des Bundesjugendorchesters und iranischen Musikern des Al-Said-Konservatoriums spielten.
Bereits 2017 war das afghanische Mädchenorchester „Zohra“ in Europa aufgetreten, darunter auch in Berlin. „Wir waren damals sehr dankbar, dass wir unsere Konzerte überhaupt spielen konnten, besondere in Berlin, obwohl der schreckliche Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz im Winter zuvor Deutschland aufgewühlt hatte und die politische Atmosphäre aufgeheizt war. Wir gaben damals eine Erklärung ab, in der wir als Musiker diesen abscheulichen Anschlag alle zutiefst verurteilten.“
Sarmast hat das AYO 2010 mit der Vision gegründet, die afghanische Gesellschaft zu erneuern und die kulturellen Wurzeln der Musik wiederaufzubauen. „Darüber hinaus wollte ich, dass das Orchester mit einer kraftvollen Stimme, die weit über die Möglichkeit der Sprache hinausgeht, zur internationalen Gemeinschaft sprechen kann. Und ich wollte, dass jedes Kind in Afghanistan – ob Junge oder Mädchen – die Möglichkeit hat, bei uns ein Instrument zu lernen.“

Terror und Selbstmordattentate
Für diesen Akt der Menschlichkeit erfuhr Sarmast die Gewalt der Taliban am eigenen Leib. Er wurde bei einem Selbstmordanschlag in Kabul 2014 schwer verletzt: „In den Monaten vor dem Sommer 2014 wurde ich über einen Anschlagsplan der Taliban auf ANIM und ihre Orchester informiert. Aber ich nahm das damals nicht ernst. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie wirklich so unmenschlich sein könnten und unsere kleine Schule und die Kinder angreifen. Doch als wir im Sommer 2014 eine Aufführung im Französischen Institut gaben schickten sie dorthin einen jungen Selbstmordattentäter, der sich im Publikum in die Luft sprengte.“ Die Taliban übernahmen offiziell die Verantwortung für den Anschlag. Sie veröffentlichten eine Pressemitteilung, in der Ahmad Sarmast als eines der Angriffsziele benannt wurde. „Ich bin bis heute dankbar, dass keiner der jungen Musikstudentinnen und Musikstudenten körperlich verletzt wurde, aber natürlich war das Ganze psychisch sehr belastend für sie. Sie mussten das Blutbad und die Verbrennung des jungen Körpers mit ansehen. Ich selbst wurde bei dem Anschlag schwer verletzt: Nicht nur wurde mein Kopf von elf Granatsplittern getroffen. Da auch meine beiden Trommelfelle perforiert waren, verlor ich mein Gehör. Nach einer ersten medizinischen Behandlung in Kabul flog ich nach Australien, wo ich psychologische Hilfe erhielt und operiert wurde, um alle Granatsplitter aus meinem Kopf zu entfernen.“
Doch die Repressionen hörten nicht auf. 2015 wurden vier verdächtige Personen in der Nähe der Schule festgenommen, weil sie einen Anschlag geplant hatten, so Sarmast weiter. Anfang 2018 schließlich wurde ein Taliban-Netzwerk vom Geheimdienst ausgehoben „Der Anführer gab zu, dass er unter anderem damit beauftragt war, meinen Tagesablauf auszukundschaften, um meine gezielte Tötung vorzubereiten. Und im Jahr 2020 informierten uns die afghanischen Sicherheitsbehörden, dass unsere Schule auf der Liste der Taliban für tödliche Angriffe ganz oben stand.“
Weshalb ist der Hass der Taliban auf seine Musikschule so groß? Sarmast schüttelt den Kopf: „Ja, warum hassen sie uns? Weil alles, was ANIM seit seiner Gründung in Afghanistan vorschlägt und fördert, in krassen Widerspruch zu ihrer Ideologie und Überzeugung steht: Wir setzen uns für die musikalischen Rechte des afghanischen Volkes ein, fördern Musikausbildung und kulturelle Vielfalt, wir fördern die Gleichstellung der Geschlechter sowie die Stärkung junger afghanischer Frauen durch Musik und wir setzen uns für den musikalischen Austausch mit der ganzen Welt ein.“
Insgesamt zeigten die Taliban eine völlige Unkenntnis der islamischen Lehre, so Sarmast weiter: „Ihre Einstellung zur Musik basiert auf ihrer engen Auslegung der Verse des heiligen Korans. Soweit uns bekannt ist, gibt es im gesamten Koran keine einzige Passage, die Musik verbietet. Die Taliban fürchten die vereinende Kraft der Musik und ihre Fähigkeit, Botschaften der Einheit und Widerstandsfähigkeit zu vermitteln.“

Hoffnung auf die Zukunft
Die aktuelle Situation in Afghanistan sei zutiefst tragisch. Ein System der Geschlechtertrennung habe Frauen faktisch aus dem öffentlichen Leben verdrängt und eine Atmosphäre des erzwungenen Schweigens geschaffen. Dennoch hat Sarmast Hoffnung: „Die Geschichte zeigt, dass es keinem autoritären Regime gelungen ist, sich dauerhaft an der Macht zu halten. Das afghanische Volk wird Tyrannei und Unterdrückung mit der Zeit widerstehen und überwinden.“
Auch Shabana glaubt an das Gute: Spätestens in zehn Jahren, so hofft sie, werden sich alle gegen die Taliban zusammengeschlossen haben. „Ich werde jedenfalls mein Bestes tun und mithelfen, dass diese Vision Wirklichkeit wird“, sagt sie und zum ersten Mal an diesem Nachmittag huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.